Chancen nutzen, Risiken abwägen
Im Kreishaus Gütersloh ging es am Donnerstag um das Freihandelsabkommen TTIP: (v. l.) Anna Bückmann (Pro Wirtschaft GT), Monika Olszewski (Moderatorin), Lutz Göllner (EU-Kommission), Bettina Cebulla (Verbraucherberatung), Robert Fuß (IG Metall), Christoph von der Heiden (IHK-Geschäftsführer), Landrat Sven-Georg Adenauer und der CDU-Europaabgeordnete Dr. Markus Pieper. Bilder: Neitemeier
Von unserem Redaktionsmitglied MARTIN NEITEMEIER
Kreis Gütersloh (gl). Am Ende der mehr als zweistündigen Diskussionsrunde im Kreishaus Gütersloh waren sich die Akteure auf dem Podium im Grunde einig: Das transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen der Europäischen Union und den USA ist notwendig. Aber nicht um jeden Preis. „Wir müssen die Chancen nutzen, dürfen die Risiken aber nicht ausklammern“, fasste Dr. Marco Kuhn vom Landkreistag NRW die Debatte vor mehr als 100 Gästen, darunter viele Skeptiker, zusammen.
Einleitend hatte Lutz Göllner von der Europäischen Kommission die laufenden Verhandlungen in die jahrzehntelange komplexe Handelspolitik eingeordnet. Außer mit den USA werde derzeit mit 22 anderen Ländern verhandelt, weitere stünden bevor. Der Wegfall von Zöllen sei dabei nur ein Punkt. Göllner: „Vielfach geht es um sehr technische Fragen und die Angleichung von Vorschriften, damit der Handel untereinander einfacher wird.“
Warum ist TTIP erforderlich?
Das Handelsabkommen mit den USA liegt Lutz Göllner zufolge im „ureigenen Interesse der EU“. Es gehe um wirtschaftliches Wachstum, ohne dass verlässlich vorhersehbar sei, wie viele zusätzliche Arbeitsplätze es geben werde. Mehr Wachstum und Beschäftigung erhofft sich auch der CDU-Europaabgeordnete Dr. Markus Pieper. Noch wichtiger ist für ihn angesichts aufstrebender Wirtschaftsmächte wie China und Indien die Wahrung des Bestands. Die heimische exportorientierte Wirtschaft setzt nach den Worten von Christoph von der Heiden auf einen „leichteren Marktzugang“. Der Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer in Bielefeld gab ein Beispiel: Weil für Notausschalter an einer Maschine in Deutschland und den USA unterschiedliche Montagevorgaben gelten, ist der Export in die USA nur mit einem hohen zusätzlichen Aufwand möglich, der sich nicht rechnet. Von der Heiden: „Wir brauchen einheitliche Normen.“
Streitpunkt Investorenschutz und nicht-staatliche Schiedsgerichte:
Auf den Investorenschutz kann die Wirtschaft laut Christoph von der Heiden im ersten Schritt verzichten. Wichtig sei, dass Ausländer nicht diskriminiert und Investoren fair behandelt würden und dass es bei Enteignungen Entschädigungen gebe. Gegen Investorenschutz hat Bettina Cebulla von der Verbraucherzentrale NRW nichts. Streitfälle sollten aber vor deutschen Gerichten verhandelt werden. Befürchtungen von Robert Fuß von der IG Metall, Firmen könnten zu leicht Schadenersatzansprüche geltend machen, trat Göllner entgegen. „Es gibt kein Abkommen mit einem Recht auf ungeminderten Profit.“ Vielleicht könne man in den Verhandlungen ein neues Modell mit Investorenschutz und Schiedsgericht entwickeln. Für einen internationalen Handelsgerichtshof sprach sich Marco Kuhn vom Landkreistag aus. Auch Europaparlamentarier Dr. Markus Pieper liebäugelt mit einer neutralen Instanz.
„Einzigartige Debatte mit vielen Emotionen“
Sind die Verhandlungen ausreichend transparent?
Lutz Göllner von der EU-Kommission sagt auch angesichts der eingerichteten Internetseite Ja. Die Debatte sei „in ihrer Intensität und Emotionalität einzigartig“. Die Kommission mache keinen Alleingang, sondern habe ein Verhandlungsmandat des Parlaments und der Mitgliedsstaaten. Und: Der später vorliegende Vertragsentwurf durchlaufe ein vielschichtiges Ratifizierungsverfahren. Aus taktischen Gründen dürften nicht alle Details öffentlich sei. „Das ist auch eine Frage des Vertrauens in die EU und die USA.“
Auch Dr. Marco Kuhn (rechts) vom Landkreistag NRW saß bei der vom Europa-Informationszentrum im Kreis Gütersloh organisierten Diskussion neben Lutz Göllner von der EU-Kommission auf dem Podium. Gut 100 Zuhörer waren ins Kreishaus gekommen. Das Europa-Informationszentrum ist Pro Wirtschaft GT angegliedert.
Robert Fuß von der IG Metall hielt dagegen: „Eine gewisse Transparenz gibt es erst, seit sie vehement eingefordert worden ist.“ Dass erst auf Druck gehandelt worden sei, räumte Markus Pieper ein. Der CDU-Europaparlamentarier forderte, dass die Dokumente im Internet nicht nur auf Englisch, sondern auch in Französisch und Deutsch zugänglich sein müssten. Pieper kritisierte das Ergebnis der Online-Befragung, weil 97 Prozent durch Massen-E-Mails generiert worden seien. Sich nicht vorher informiert zu haben, diesen Vorwurf wiesen Zuhörer, die sich beteiligt hatten, zurück. Göllner hatte zuvor erklärt, die Mehrheit der Menschen in Europa stehe hinter TTIP. Dem widersprach Fuß, da sich 145 000 von 150 0000 Bürgern kritisch geäußert hätten.
Abbau von Standards:
Bettina Cebulla und Robert Fuß haben Sorge, dass TTIP mit dem Abbau von Standards im Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz einhergeht. Die Vertreterin der Verbraucherzentrale forderte daher öffentliche Anhörungen zu jedem Verhandlungskomplex. Der Gewerkschafter gab die Maxime aus: „Wer einheitliche Normen will, muss auch die internationalen Standards bei den Arbeitnehmerrechten akzeptieren.“ Das sei in den USA derzeit nur in Teilen der Fall. Man könne deutsche Arbeitnehmerrechte nicht zur Grundlage von TTIP machen, widersprachen ihm Kommissions-Vertreter Göllner und EU-Politiker Pieper.
Öffentliche Daseinsvorsorge:
Der Landkreistag ist Kuhn zufolge seit Einblick in die Unterlagen „beruhigter“, dass durch TTIP die Regeln für die Daseinsvorsorge nicht ausgehebelt werden sollen. „Die Kommission kann und will über geltendes Recht nicht hinausgehen.“ Eine Privatisierungswelle sieht er auf die Kommunen nicht zukommen. (mn)
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Nebenbei
Bei der vom Europa-Informationszentrum im Kreis Gütersloh organisierten und von Monika Olszewski von Radio Gütersloh moderierten TTIP-Diskussionsveranstaltung sollte am Donnerstag eigentlich auch der heimische CDU-Europapolitiker Elmar Brok auf dem Podium sitzen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments musste jedoch absagen, weil ihm ein Termin mit US-Vizepräsident Joe Biden dazwischen gekommen war. Im Weißen Haus in Washington sprachen Brok und Biden so nahezu zeitgleich unter anderem über das russische Vorgehen in der Ukraine – und über das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. (mn)