1. Armutskonferenz in Gütersloh

  • 10 July 2017
  • jdroop

Es gibt sie - Armut mitten in Gütersloh

„Geben Sie mir einen kurzen Augenblick und ich erzähle ihnen aus meinen Erlebnissen als Familienpatin.“ Augenblicklich kehrte gespannte Stille ein. 120 Teilnehmer im Publikum im Bürgerkiez der Weberei in Gütersloh verstummten. Das Zuhören lohnte sich. Eine Dame aus dem Kinderschutzzentrum Gütersloh mit grauen Haaren, vielen Lachfältchen und diesem gewissen Etwas an Dynamik erzählte von einem Jungen, der seine Freunde nicht zu sich nach Hause einladen wollte. Zuhause - da wohnt die Armut, die man sehen kann. Die ehrenamtlich Engagierte erlebte bei einem Besuch vor Ort, woran das festzumachen war. Es gab keine Spüleinrichtung in der Küche. „Wo wascht ihr denn das Geschirr?“ fragte sie die beiden. Der Junge antwortete: „In der Badewanne.“ Dieser Einblick war der Helferin Ansporn genug. Sie hörte sich um, fand Freunde, die gerade eine neue Küche gekauft hatten - und bat um die Spüle als Spende für den Jungen und seine Mutter.
Rührende und doch zupackende Erfahrungsberichte - die gab es zuhauf auf der 1. Armutskonferenz in Gütersloh. Lebensnahe Einblicke in den Alltag gepaart mit jeder Menge Fachkompetenz und Wissen aus der Zivilgesellschaft - das machte das Gelingen dieser 1. Armutskonferenz aus.

Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen - diese Weisheit ist mittlerweile bekannt. Was aber braucht es, um Armut in einer Mittelstadt ins Blickfeld zu rücken, die von außen als wohlhabend und reich daher kommt? Was braucht es, um Armut in einer Mittelstadt in den Griff zu bekommen oder erst gar nicht aufkommen zu lassen. Diese Fragen standen auf der Tagesordnung der 1. Armutskonferenz in Gütersloh. Mehr als 20 Initiativen hatten dazu aufgerufen: Unter Federführung des Paritätischen (NRW) haben sich vor gut einem Jahr über 20 gemeinnützige, caritative Einrichtungen, Verbände, Institutionen, Träger oder Vereine aus dem Stadtgebiet zusammengeschlossen. Auch „Demokratie wagen!“ ist als Mitveranstalter dabei. Warum? Weil auch Armut ein Thema von Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen ist - und wir uns dafür einsetzen. Am Ende der Konferenz standen zahlreiche Antworten in vier Arbeitsschwerpunkten „Armut im Alter, Kinderarmut, Wohnungsnot und prekäre Arbeitsverhältnisse“ auf dem Ergebniszettel.

Aber der Reihe nach.

Der Auftakt

Christian Stephany (Leiter einer Jugendeinrichtung im Kreis Herford) begrüßte, stellt das Programm vor und erläutert, dass an diesem Tag nicht nur Zuhören gefragt ist, sondern auch die Beteiligung der Konferenzteilnehmer in den Workshops. Die gemeinsam erarbeiteten Ergebnissen sollen auf den Weg gebracht werden: ins Rathaus, in die Hände von Politik und Verwaltung. Natürlich wird es eine Folgekonferenz geben. Selbstverständlich sollen die Fortschritte nachgeprüft werden. So die Idee.

Den Start gab die Stadt Gütersloh selbst. Ingrid Hollenhorst (CDU), Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses, hielt das Grußwort der Stadt. Sie beschreibt die Situation in der Stadt Gütersloh, bezieht sich auch den Familienbericht 2008 und 2015. Gütersloh sei eine soziale Stadt formuliert sie.

Hier der Link zu den Familienberichten 2008 / 2015 der Stadt Gütersloh.
http://www.guetersloh.de/Z3VldGVyc2xvaGQ0Y21zOjQyOTk5.x4s

Sie ermögliche Teilhabe, Ganztag, Erreichbarkeit von höheren Bildungseinrichtungen mit einer hohen Durchlässigkeit. Die Aufgaben gelängen vor Ort dabei durch die Unterstützung von zahlreichen Institutionen, Vereinen, Stiftungen, Nachbarn. „In Gütersloh läuft vieles rund“ - so die These. Wo denn? - ließ sich eine Gegenstimme aus dem Publikum vernehmen. Armut dürfe keine Schande sein, Teilhabe das oberste Ziel der Stadt Gütersloh - so die Grußworte.

Viele Teilnehmer der Konferenz zogen diesen eher positiv beschriebenen Sachverhalt in Zweifel - statistisch gesehen leben alleine 15,6 Prozent der Kinder unter 15 Jahren am Rande der Armutsgrenze. 2.140 Mädchen und Jungen bestreiten mit staatlichen Hilfen und vielfältiger Unterstützung lokaler Hilfseinrichtungen vor Ort ihren Alltag. Armut vererbt sich auch auf die nächste Generation. Alles stichhaltige Gründe, diese Konferenz einzuberufen.

Armut bedarf keiner Empörung - sondern Fakten

Hauptreferent der Konferenz war Prof. Dr. Georg Cremer, bis 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes e.V.. Von Haus aus ist er Volkswirt. Im letzten Jahr machte er Furore mit seinem Buch „Armut in Deutschland“. Er steht in der Kritik, weil er moralische Skandalisierung von Armut anprangert. Er setzt eher auf Fakten und konkretes Handeln, statt auf Empörungskultur. Diesem Anspruch wurde er auch bei seinem Vortrag in Gütersloh gerecht. Einfache Antworten gab er nicht. Er plädierte für das differenzierte Hinschauen - eine Aufgabe, die im öffentlichen Diskurs um die Frage der auseinanderdriftenden Schere von Arm und Reich nicht immer gelingt. Ist es doch einfacher zu fordern „Hartz IV muss weg“ - wie im Plenum der Konferenz geschehen. „Wenn Sie das System abschaffen wollen, dann brauchen Sie trotzdem ein neues. Und wie soll das dann aussehen?“ reagierte Prof. Cremer auf diesen provokanten Einwurf aus dem Publikum.

Hier ein Link zu ihm:
https://www.caritas.de/diecaritas/deutschercaritasverband/strukturundlei...

Cremer zeigt auf, dass Armut auch in prosperierenden Regionen stattfinden kann. Er kennt die Empörungswelle, wenn neue Daten auf den Markt kommen - er sortiert den Armutsbegriff ein in die wissenschaftliche Definition, er greift den Verfassungsrang des Anspruchs von Teilhabe auf. Das Gebot der Gewährung menschengerechter Teilhabe.

Es soll hier keine detaillierte Wiedergabe formuliert werden, das könnte dem Vortragenden nicht gerecht werden. Hier daher nur einige zentrale Aussagen: die Frage der Berechnung von Armut ist zentral, man muss die Kriterien kennen, wenn man über Armut spricht. Die Frage der statistischen Zuordnungen ist wichtig, die spezifischen Gruppierungen sind wichtig zu kennen. Etwa der Umstand, dass Flaschensammler und Obdachlose gar nicht zählen: weil sie nicht als „Haushalt“ definiert werden. Wer trägt das Risiko, arm zu werden - das ist wichtig zu wissen, will man kommunal reagieren können: es sind die Gruppen der Langzeitarbeitslosen, die Alleinerziehenden mit Kindern, die Kinderreichen, die Geringqualifizierten. Alles Gruppen, die man in der Stadt kennen kann. Fakt ist auch: Menschen mit Migrationsgeschichte sind häufiger von Armut bedroht, ein Grund ist der fehlende Zugang zu Bildung. Es gilt, die 1 Millionen Geflüchteten in Deutschland zu integrieren, damit ein Anstieg von Armut verhindert wird. Der beste Weg, das zu vermeiden, ist es, Menschen in Arbeit zu bringen.

Cremer wehrt sich gegen Niedergansdiskurse. Es sei gefährlich, Fakten zu formulieren, die nicht stimmen. Das birgt Gefahren für die Demokratie. Fakenews spielen den Rechtspopulisten in die Hände. Die Situation in Deutschland sei seit 2005 stabil. Das Auseinanderdriften von Arm und Reich sei keine Folge von Hartz IV.

Künftig werden die staatlichen Transferleistungen steigen. Ein Grund sind die durchbrochenen Erwerbsbiographien. Er thematisiert auch die Rente. Nennt die aktuelle Diskussion als unschön. Die Bekämpfung der Altersarmut gelinge nicht durch den Anstieg der Renten. Arme Rentner haben nichts von einer Rentenerhöhung, die an anderer Stelle der Transferleistungen, die zur Sicherung gezahlt werden, gleich wieder abgezogen werden. (Ähnlich wie beim steigenden Kindergeld, welches arme Familien gar nicht erreicht.)

Unterstützung von Familien ist notwendig. Die Debatte müsse künftig um Vermeidung von Notlagen kreisen, ebenso wie um die Befähigungsdebatte im Zugang zu Bildung und Ausbildung. Menschen müssen ihre Potenziale entfalten können. Potenziale müssten sich im Erwerbsleben entfalten können. Eine abgehängte Gesellschaft kann man nicht durch Verteilung ausgleichen.

Er sieht Patenschaften als eine mögliche Form der Hilfe. In Schulen, als privates Engagement. Er sieht die Stärkung der Gewerkschaften als eine Form der Prävention von Armut. Er sieht Innovationen vor Ort als wirksames Mittel, die dann konkret getestet werden und dann von unten nach oben kommuniziert werden und als Veränderungsangebot für Missstände Veränderung einläuten können. Dazu muss man hartnäckig sein. Cremer sieht die Notwendigkeit von öffentlichen Räumen, die Zugang ermöglichen, ohne Konsument sein zu müssen. Gibt es diese Räume nicht, teilt sich die Welt in Teilhabende und Nicht-Teilhabende. Was die Kommune noch leisten kann: sozialer Wohnungsbau. Der ist direkt vor Ort steuerbar. Es gilt die städtischen Investitionsmöglichkeiten zu nutzen. Dazu empfiehlt er auch den Diskurs, ob Ökologie immer vor Sozial gehen müsse, manchmal muss man auch eine grüne Wiese bebauen.

Arbeit der Zivilgesellschaft in Workshops

Es folgten die 4 Arbeitskreise zu den Themenschwerpunkten: Kinderarmut, Wohnungsnot, Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sowie Armut im Alter.

Hier sollen lediglich kurz die wichtigsten Ergebnisse zu finden sein. Eine profunde Aufarbeitung erfolgt noch durch die Organisatoren. Diese wird für alle öffentlich zugänglich zur Verfügung gestellt. Und auch hier nach Fertigstellung nochmal verlinkt werden. Bis dahin so viel:

AG Kinderarmut
Herangehen aus Kinderperspektive, Informationen einfach und kompakt zusammen stellen, wo es was als Unterstützung gibt. Mit Verortung im Stadtplan und Telefonnummern. Eine Broschüre soll dazu erstellt werden.

Sachleistungen sollen ohne große Antragsflut möglich sein. Hürden der Beantragung abbauen, Hauptmaterialien für die Schule soll es ohne Anträge geben, für Sport und Freizeit soll es Gutscheine geben, ebenso besonderes Angebot in den Ferien, welches auch erreichbar ist für Kinder ohne Begleitung.

AG Altersarmut
Forderungen - bezahlbarer Wohnraum in Wohnmittelpunkten,
Erhalt der Nahmobilität, bezahlbarer ÖPNV, Ausbau und Erhalt der Versorgung mit Lebensmitteln, Arzt, Apotheken in den Wohnquartieren, Kostengünstige Freizeit und Kulturangebote, ebenso Sport,
Anlaufstellen in den Quartieren, Nutzung von Echtzeitdaten für ein Monitoring, mehr Beratungsstellen für Rentenbezug in städtischer Hoheit, bessere und nachhaltige Netzwerke der Lobbyisten für Altersarmut wie der Seniorenbeirat, bessere Kommunikation und Information, digitale Strategien für Information und bessere Verlinkung von Angeboten.

AG Prekäre Arbeitsverhältnisse
geförderter sozialer Arbeitsmarkt muss eingerichtet werden, stabile Strukturen und Teilhabe sicherstellen;
Zeitarbeit und Leiharbeit in den Blick nehmen = Kommunen müssen ihre Möglichkeiten ausschöpfen; Werkverträge in den Blick nehmen; Kopplung von Wohnung und Arbeit muss aufgelöst werden.

AG Wohnungsnot
Miethürden:
Es soll konkrete Ansprechpartner geben, es soll Lotsen geben, es soll eine zentrale Stelle geben, die auskunftsfähig ist, anonym ohne Anträge.

Wohnungsnot:
konkrete Bedarfe für konkrete Gruppen sollen ermittelt werden (Frauen, Migranten, ...)
Konzepte erstellen, Quartiermanagement von sozialen Brennpunkten, Mietpaten bereitstellen; wenn gebaut werden soll, dann dezentral, damit keine sozialen Brennpunkte entstehen.
konkrete Umsetzung: Kommune mehr in die Pflicht nehmen, Wohnungsgipfel in Gütersloh organisieren (Stadt, Privat, Träger, Wirtschaft)

Wie weiter?

Es zeigt sich: Armut gerät in den Blick einer Stadt. Wegschauen geht nicht mehr. Armut ist auch ein Thema in einer nach außen hin prosperierenden Region. Es ist eine Aufgabe für die Kommune und ihre Entscheider.
Armut ist aber auch eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft. Die 1. Gütersloher Armutskonferenz hat gezeigt, dass gerade in der Netzwerkarbeit und dem Austausch von Verantwortlichen und der Zivilgesellschaft eine große Schnittstelle bestehen (kann). Den Dialog gilt es zu vertiefen. Die kommunalen Ansätze gilt es aufzugreifen. Vor allem aber: es darf nicht bei einem Armutsgipfel bleiben, es muss ein nächster kommen, der den Prozess der Veränderung festhält. Armut ist kein Thema, welches künftig einen Bogen um Gütersloh machen wird. Und noch schlimmer: Armut verhindert Teilhabe. Das darf sich keine Gesellschaft leisten, wenn das Zusammenleben gelingen soll.

Anke Knopp