Wird der Bürgerrat in Gütersloh ein “Zukunftsrat”? Und gelingt die Vernetzung eines Gütersloher Bürgerrates mit “Smart City”?

  • 7 October 2021
  • jdroop

Ein Abriss aus dem Hauptausschuss

Unser Antrag zum Bürgerrat ist noch nicht vom Tisch, belegt aber in seinem mittlerweile historischen Werdegang eindrucksvoll, dass Politik das Bohren dicker Bretter bedeutet und einen langen Atem benötigt: Im Februar 2020 gestellt, durchläuft er nun die nächste Phase. Im Hauptausschuss der Stadt Gütersloh vom 4. Okt. 2021 findet sich wiederholt eine Vorlage zur Beratung, ob und wie ein Bürgerrat für Gütersloh aussehen könnte.

Was bisher geschah:

Dem aktuellen Prozess sind bereits einige Schritte vorausgegangen: unsere Originaleingabe zur Beratung im HA am 16.2.2020; neue Vorlage der Verwaltung für ein “Gütersloher Modell” im HA am 30.8.21, der gemeinsame Antrag von Grünen und SPD, die Experten von Mehr Demokratie e.V. als Impulsgeber einzuladen. Zudem mehrere gemeinsame virtuelle Gespräche und Beratungssitzungen mit dem Bürgermeister Norbert Morkes und seinem Verwaltungsteam. Diese Gespräche verliefen konstruktiv, es wurden zahlreiche Anregungen unsererseits von der Verwaltung aufgegriffen.

Unsere gemeinsamen Bemühungen aber scheiden sich an der Frage des Formates. Wir setzen auf ein Verfahren nach dem Muster der Bürgerräte von Mehr Demokratie e.V. - der Bürgermeister möchte sein “Gütersloher Modell” nach einer abgespeckten Version des Vorarlberger Modells. Wir als Demokratie wagen gehen an der Stelle nicht mit, weil das Verfahren zu viele Lücken aufweist, nicht durchdacht ist, es an konkreten und vorab verbindlichen Spielregeln fehlt, zu kurz angelegt ist, eine nicht näher beschriebene Aufbereitung durch die Verwaltung vorsieht und kaum Aussagen dazu macht, wie die Phase der Transformation in die Politik verbindlich geregelt wäre. Auch eine Evaluation ist in der Idee der Verwaltung nicht mitgedacht.

Hier finden sich die zentralen Schritte und Entscheidungen aus dem Ratsinformationssystem der Stadt Gütersloh:
https://ratsinfo.guetersloh.de/vorgang/?__=UGhVM0hpd2NXNFdFcExjZcafxMjw_...

Expertise im Hauptausschuss:

Aus diesen Gründen ist es hilfreich, auf die Expertise der Praktiker zu setzen, die bereits erfahren sind und das Verfahren mehrfach erfolgreich im Feld durchgeführt haben. In den Hauptausschuss am Montag, 4. Oktober 2021 eingeladen waren deshalb auf Antrag der Grünen und der SPD die Experten: Thorsten Sterk als Campaigner von Mehr Demokratie NRW e.V. und Experte für Bürgerräte, sowie Rosa Hoppe als Vertreterin von LOSLAND.

Thorsten Sterk skizzierte den Ansatz des Bürgerrates in seinen Grundzügen.

Wie funktioniert ein Bürgerrat:

  • ausgeloste Teilnehmer
  • Beratungen zu einem Thema, löst sich danach auf
  • erstellt ein Bürgergutachten, das an die Politik geht
  • Organisiert durch den “Staat” = künftig ist es wünschenswert, dieses gesetzlich zu verbriefen

Es wird zufallsausgelost durch die Daten des Einwohnermeldeamtes (Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnort, Migrationshintergrund), postalische Einladung, Auswahl nach bestimmten Kriterien (transparent), Zusammenstellung der Versammlung. Ziel ist eine höhere Repräsentativität, als sie in den gewählten Parlamenten vorherrscht.

Es soll hier abgekürzt werden, wir haben dazu bereits viel geschrieben. Für alle, die das Prozedere im Detail nachlesen möchten - bitte hier klicken. https://www.buergerrat.de/ueber-buergerraete/

Rückschlüsse für Gütersloh

Thorsten Sterk bietet in seinem Vortrag einen profunden Parcours-Ritt durch zahlreiche gute Beispiele von Bürgerräten auf unterschiedlichen Ebenen, von der Nation bis zur Kommune. Und zieht daraus auch seine Kritik für das Modellvorhaben von Morkes in Gütersloh nach dem Vorbild von Vorarlberg: Die Einleitung ist unklar beschrieben, die Steuerung ist unklar und wirft viele Fragen auf, die im Prozess nachher nicht mehr einfach so beantwortet werden können; die Prozessdauer ist zu kurz (das sagen auch die Kollegen aus Vorarlberg); das Bürgercafe fehlt; die Evaluation, also die wissenschaftliche Aufarbeitung, fehlt; die Behandlung der Empfehlungen oder des Gutachtens am Ende ist unklar bis gar nicht geklärt. Zu klären bleibt ferner: Soll es eine Berichtspflicht geben? Was wird umgesetzt, ja oder nein?

Vernetzung mit dem Smart City Ansatz

Sterk geht auch ausführlich auf die von uns angeregte Vernetzung mit dem Gedanken und Projekt von Smart City und Bürgerräten ein - und befürwortet eine solche Vernetzung.

Seine Punkte dazu lauten: der Bürgerrat kann so die Chancen der digitalen Kommunikation und Information nutzen, die Durchführung gelänge sogar online, die Nutzung aller kollaborativen Werkzeuge der Digitalisierung ist möglich und naheliegend, die Dokumentation kann online viel umfassender und weitreichender erfolgen. Die Verbindung mit der Online-Plattform Consul wäre sehr sinnvoll, auch sie bietet nochmal ein Vielfaches an Möglichkeiten, weit in die Gesellschaft vorzudringen und eine hohe Erreichbarkeit und Teilhabe zu gewährleisten. So ließe sich eine Diskussion und Reflexion anregen, die offline nicht möglich wäre.

Consul wäre sogar hilfreich, um das Beratungsthema für einen Bürgerrat zu ermitteln, weil es für die Bürgerinnen und Bürger hochgradig erreichbar ist. In der Verbindung von (digitalen) Bürgerräten mit Consul könnte Gütersloh Vorreiter-Stadt sein.

Zukunftsräte - Modell für Gütersloh?

LOSLAND ist ein gemeinsames Projekt von Mehr Demokratie e.V. und dem Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) Potsdam. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung ist angedockt. Projektleiterin Rosa Hoppe stellte es im HA vor - und avisierte, dass LOSLAND Interesse daran hat, Gütersloh als Modellkommune zu gewinnen.

LOSLAND will 10 Modellkommunen in ganz Deutschland erreichen, die sich für eine enkeltaugliche Zukunft engagieren möchten - und dies durch die Einrichtung von “Zukunftsräten”, so heißen im LOSLAND-Wording die Bürgerräte.

Angesprochen werden hierzu gerade vor allem möglichst motivierte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus Gemeinden und Städten, die sich gerne mit ihrer Verwaltung, Politik und vor allem auch der Bürgerschaft partizipativ auf den Weg machen möchten. Mit der Einrichtung eines Zukunftsrates. Bisher sind zwei Kommunen dabei, aber deutlich kleinere als Gütersloh mit seinen rund 100.000 Einwohnern (Augustusburg, 5.000 Einwohner und Leupoldsgrün, 1.300 Einwohner). Und dennoch soll Gütersloh als Großstadt im ländlichen Raum erreicht werden - Rosa Hoppe rollte den Güterslohern geradezu einen roten Teppich der Demokratievitalisierung aus.

Gestecktes Ziel des Projektes ist es, zu einer aktiveren und kooperativen politischen Kultur beizutragen. Gemeinsam in der Trias Politik, Verwaltung und Bürgerschaft sollen vor Ort passgenaue Beteiligungsprozesse geplant und entwickelt werden. Es ist also ein hochgradig co-kreativer Prozess.

LOSLAND unterstützt die Kommunen bei deren Umsetzung mit einem geschulten Moderatorenteam. Auch LOSLAND setzt auf die Methode der zufallsbasierten Bürgerräte. Das Projekt würde gerne mit Gütersloh zusammenarbeiten, d.h., sämtliche Planung und Moderation könnte als Dienstleistung im Wert von 10.000 Euro darüber laufen. Der Anteil der Stadt Gütersloh läge bei der Stellung von Räumen, Catering, Reisekosten und Übernachtung des Teams.

Eile wäre geboten, denn bis Jahresende sollte die Entscheidung gefallen sein. Die zeitliche Projektgrenze ist für November 2022 gesteckt. Bis dahin will man auf Erfahrungen aus ganz Deutschland blicken können. Der Vorteil ist auch: es stellt sich durch die Vernetzung der beteiligten Kommunen eine Plattform dar, auf der sich austauschen lässt, weiterentwickeln lässt, Anregungen und Gutes wird gestärkt, Fehler künftig vermieden. Und: es stellt sich Vergleichbarkeit ein und ein gemeinsames Nachdenken, was gut gelaufen ist und sich künftig verstetigen soll.

So kann Gütersloh sich nicht aus der Verantwortung stehlen mit der gerne bemühten Formel: klappt hier nicht. Ein dickes Plus für die Bürgerschaft wäre es also, wenn für eine solch negative Beurteilung dann sehr viel mehr aufgewendet werden müsste als simple Unlust auf Beteiligungsverfahren nach gegebenen Spielregeln.

Im Hauptausschuss wurde anschließend - leider gar nicht diskutiert. Einzig die Grünen zeigten eine hohe Begeisterung für das Projekt und baten darum, eine entscheidungsreife Vorlage bitte bereits zum HA im November 2021 vorgelegt zu bekommen - damit eine Teilnahme bei LOSLAND noch möglich wird . Zudem brachten sie ins Spiel, die Teilnehmerzahl der gelosten Mitglieder gerne von 20 auf 30 zu erhöhen, das einer Großstadt wie Gütersloh angemessener erscheine.

Der Bürgermeister Morkes stellte keine Fragen, kommentierte die Inhalte leider auch an keiner Stelle. Der Bitte der Grünen nach einer neuen und entscheidungsreifen Vorlage bereits im HA im November kam er insofern entgegen, als dass er den entsprechenden Sachbearbeiter in der Verwaltung befragte, ob er das zeitlich hinbekäme. Dieser nickte.

So bedankte sich der Bürgermeister bei den beiden Referenten Hoppe und Sterk für die Vorträge und rief zum nächsten Tagesordnungspunkt auf. Bürgerräte seien sein Herzenswunsch, hatte er stets formuliert. Von der Zuschauertribüne aus konnten wir als Demokratie wagen von Herzblut leider nichts erkennen.

Bei all dem Ringen darf nicht vergessen werden, dass es bisher nur um das Format eines Bürgerrates geht. Die alles entscheidende Frage ist jedoch die nach dem Thema, das beraten werden soll. Demokratie wagen hat schon in dem Initialantrag einen Vorschlag dazu gemacht: Wie wollen wir in 2030 in Gütersloh leben - auf dem Weg in die Klimaneutralität. Die enge Zeitvorgabe im LOSLAND-Projekt kommt diesem Thema entgegen, denn nichts ist dringender als endlich auch vor Ort der Klimakrise entgegenzutreten.

Wir als Antragsteller und Befürworter eines Bürgerrates nach dem Vorschlag von LOSLAND hoffen auf eine politische Mehrheit im nächsten HA und anschließend im Rat im Nov. 2021. Damit Gütersloh die Chance auf einen Bürgerrat für die drängenden Fragen dieser Zeit erhält und dass das Losverfahren dazu beiträgt, wieder mehr Menschen für Politik und das Mitmachen zu begeistern. Wie Thorsten Sterk sagt: die Menschen selbst wirksam werden lassen. Wir bleiben am Ball.

Link zum Bürgerrat-Antrag:
https://www.demokratie-wagen.org/artikel/buergerrat_fuer_guetersloh_wie_...

Die Glocke, 06.10.21

Neue Westfälische, 12.10.21