Demokratie in Krisenzeiten
Die Kommunalpolitik der Stadt Gütersloh macht eine Kehrtwende: die politische Gremienarbeit wird per Livestream im Internet übertragen. Das war bisher politisch nicht gewollt.
Bildquelle: Stadt Gütersloh
Zurzeit tagen die politischen Gremien in der Stadthalle Gütersloh. Hier ist mehr Raum. Der nötige Sicherheitsabstand in Zeiten von physischer Distanz funktioniert hier besser. Der Grundsatz der Öffentlichkeit wird in Corona-Zeiten besonders gewahrt: Es sind Kameras im Saal, die uns als Bürgerschaft erlauben, direkt dabei zu sein. Zwei Perspektiven sind möglich: auf die jeweiligen Redner und auf den Ausschuss in Gänze. Sogar eine Bildregie zoomt auf Karten und Dokumente, so dass auch diese lesbar im Bild erscheinen. Zusammen mit der BürgerApp anRICH für die Sitzungsunterlagen im Smartphone wird Politik so im Netz übertragen - und ist zugänglich für Jedermann und überall.
Wir von Demokratie wagen finden das super. Mehr Transparenz war selten. “Dieses Format muss ab jetzt eine Selbstverständlichkeit werden, auch nach der Krise”, sagt Jürgen Droop. Jede Sitzung soll auf der Website der Stadt gut auffindbar übertragen werden. ”Livestream von politischer Gremienarbeit muss Standard werden und eine Gewohnheit für die Bürgerschaft”, so Droop. Kommunalpolitik darf nur einen Klick weit entfernt sein.
Bisherige Praxis ist allerdings auch jetzt noch die: Jeder Ausschuss muss jedes Mal wieder darüber abstimmen, ob eine Übertragung ins Internet gewollt ist - oder nicht. Es gilt das Prinzip der Einstimmigkeit. Ist ein Mandatsträger dagegen, bleibt die Übertragung aus.
Mit gutem Beispiel voran gehen: der Ausschuss für Umwelt und Ordnung und der Planungsausschuss. Erster unter dem Vorsitz von Dr. Siegfried Bethlehem (SPD), zweiter unter der Leitung von Heiner Kollmeyer (CDU). Beides gute Beispiele für eine transparente Kommunalpolitik, weil die Mitglieder allesamt für die Live-Übertragung gestimmt haben. Und sie machen dabei durchaus eine gute Figur. Sie werden uns in Großaufnahme von vorne gezeigt, eine bessere Perspektive als aus der Distanz von der Zuschauertribüne des Ratssaals. Irritierend jedoch: nur die Verwaltung und der Ausschussvorsitz haben Tischmikrofone. Alle Anderen müssen ihre Beiträge in die wenigen Standmikrofone im Saal sprechen. So wird jede spontane Äußerung im Keim erstickt und die Debatte leidet.
Trotzdem gut so in diesen Zeiten, in denen Bürgerrechte und demokratische Abläufe arg eingeschränkt sind. Zeiten, in denen Transparenz besonders notwendig ist. Zeiten, in denen gerade die Kommunalpolitik aufgerufen ist, Vertrauen in ihre Arbeit zu vitalisieren angesichts der schweren Zeiten, die auf uns zukommen - leere Kassen, Klimawandel, Bildungszugänge etc.
Wir plädieren daher für eine Beibehaltung der Live-Übertragung von Ausschussarbeit ins Internet. Es ermöglicht vielen Menschen die Teilhabe, die vorher nicht den Weg auf die Zuschauertribüne im fensterlosen und abgeschirmten Ratssaal fanden. So gelingt der Sprung in moderne Politikvermittlung. Es geht dabei nicht allein um die Nutzung von digitaler Technik, sondern darum, Politik wieder zu den Menschen zu bringen.
Risiko: Verknappung von Vielfalt
Gleichzeitig jedoch hat der Rat der Stadt Gütersloh seine Kompetenzen an den Hauptausschuss abgetreten. Diese Option ist durch das Epidemiegesetz NRW geschaffen worden. Der Grund: Weniger Mandatsträger verringern das Infektionsrisiko. Nach Aussage der Stadt (Büro des Bürgermeisters) haben mehr als zwei Drittel der Ratsmitglieder der Übertragung der Entscheidungsbefugnisse auf den Hauptausschuss gem. § 60 Abs. 1 Satz 2 GO zugestimmt. Im Hauptausschuss sitzen 18 Mandatsträger, davon 16 stimmberechtigte, unter dem Vorsitz von Bürgermeister Henning Schulz. Ein kleines Gremium im Gegensatz zum Rat mit 53 Mitgliedern.
Wir von Demokratie wagen sehen das kritisch. Mittlerweile dürfen Geschäfte und Möbelmärkte bis zu 800 qm öffnen - ein Rat aber mit 53 Mitgliedern soll nicht ordentlich tagen können? Diese Entscheidung verknappt politische Verantwortung auf Wenige. Sie verringert die Repräsentativität von Ratsarbeit. Sie verknappt die Meinungsvielfalt in Zeiten, in denen es verstärkt um gravierende Veränderungen geht, wie es künftig weitergehen wird.
Zudem ist nicht bemessen, wie lange dieser Zustand der “Krise” dauern wird. Wie lange also soll der Hauptausschuss das Zepter in der Hand halten können? Es fehlt die lokale Ansage dazu. Im NRW-Epidemiegesetz steht, die neuen Verordnungen gelten bis höchstens 31. März 2021.
Für einen Rat, der bereits seit sechs Jahren im Amt ist und damit ein Jahr länger als es die Verfassung in NRW vorsieht, ist besondere Umsicht und Legitimation geboten. Wir plädieren daher dafür, dass der Rat wieder in vollem Umfang tagt und alle 53 Gewählten ihre Aufgaben wahrnehmen können.
Die Glocke, 04.05.2020:
Neue Westfälische, Gütersloh, 13.06.2020: